Wintersemester 2016/17: „Showflakes“
Showflakes
Wintersemester 2016/17
Über eine Arbeit
Ich möchte gerne über die Arbeit des Teams der Immatériaux sprechen. Eigentlich war es kein Team, nicht im Sinne sich ergänzender Kompetenzen zur Umsetzung eines Ziels, mit einer als Organigramm darstellbaren Aufteilung von Aufgaben und mit einem gesicherten Begriff des Gegenstandes. Es handelte sich eher um einen sieben-köpfigen Geist, der an der Anamnese seiner Thematiken arbeitete: Material, Kunst, Wissenschaft und Materie, Körper, Raum-Zeit, und was es heißt, etwas auszustellen. Wenn sich dieses Team als „leistungsfähig“ erwiesen hat, dann deshalb, weil wir während zweier Jahre in einer Form der Unruhe und Gegensätzlichkeit gearbeitet haben, sowohl in den Sitzungen als auch außerhalb der Sitzungen. Was für uns bedeutet, die professionellen Schranken aufzuheben, die verschiedenen Formen des Willens zur Macht, die hierarchische Ehrerbietung und die sie begleitenden Ressentiments; aber vor allem bedeutete es ein redliches Hören auf verschiedene Sensibilitäten, auf das, was sich durch den einen oder die andere, in Schüchternheit, verworren, in Bezug auf die Idee der Ausstellung seinen Weg suchte. Eine geheime Erregung, wenn einer von uns einen Einfall in die Sitzung einbrachte (wie man einen Traum in eine analytische Sitzung einbringt), ein Untersuchungsprinzip, oder eines für die Anordnung, die Gestaltung einer Station, die Entdeckung eines aussagekräftigen Objekts. Ob Detail oder Ganzes, niemand war im Besonderen für das Allgemeine zuständig. Sicher bildeten wir ein ganz und gar effizientes Team, und das, was gemacht werden musste, wurde auch gemacht. Kompetent, intelligent und entschlossen. Doch finden die Zurüstungen zunächst im Bereich des Gefühls statt, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ich würde sogar sagen nach der Welt, in der wir leben. Für Sie hat die von der Ausstellung geforderte Anamnese diese selbst im Gegenzug liebenswert gemacht, unerträglich für andere, unentscheidbar für die meisten.
Man müsste diese Beobachtung über die Arbeit weiter treiben. Es handelte sich nicht um eine soziale Arbeit, Arbeit im Sinne der Kulturindustrie, bloße Äußerlichkeit. Ach ja! Man hat gearbeitet! Doch liegt das Geheimnis der Ausstellung darin, dass wir selbst von ihr bearbeitet wurden. Sie ließ uns keine Ruhe, wie einen Navigator der Horizont keine Ruhe lässt oder wie einen Schriftsteller das verfolgt, was noch nicht geschrieben ist. Und in jedem Fall hatte sie uns sehr viel mehr in der Hand, als wir sie jemals in der Hand hätten haben können. Zumindest dann, wenn als Herr oder Herrin diejenigen bezeichnet werden, die nicht nur an den Erträgen des Körpers und des Geistes arbeiten, sondern auch in einer Weise an ihrer Seele arbeiten, dass sie von ihr etwas erhalten, wozu diese sich gar nicht fähig glaubte.
Das Wesentliche dazu hat Claude Simon in einem Gespräch mit Michel Evandreau gesagt. Man hat ihn, glaube ich, in Moskau gefragt: Wie verstehen sie das Handwerk des Schriftstellers? Es bestehe darin, so seine Antwort, sich zu bemühen, einen Satz zu beginnen, ihn fortzusetzen und ihn zu beenden. Für uns war diese Ausstellung die Schwierigkeit eines solchen Satzes, der Horizont der Worte, der Stationen, der Beleuchtungen, der Farben, der danach rief, die Ausstellung ins Sein zu heben. (Darin lag unsere Anmaßung, in der Annahme, dass wir von ihr gerufen wurden.) Eine unbestimmte Form, für den Begriff nicht zu fassen, zu der hin allein das Gefühl, wenn es befragt und belauert wird (darin liegt die Anamnese), geprüft und von fantastischen und anderen Interessen gereinigt, führen kann, indem es die Mittel erkennbar macht, durch die sie unübersetzt bleiben wird. Einzigartige Treue, Redlichkeit in Bezug auf etwas, das unbestimmt ist.
Sie sehen also, dass ich, wenn ich von „Arbeit“ spreche, ich von etwas nicht Greifbarem spreche. Alles Weitere liegt beim Publikum. Dass es urteilt, ist ja die Regel. Was ich hier sage, dient natürlich nicht dazu, die Ausstellung zu erklären, sie zu entschuldigen, um dieses Urteil zu beeinflussen. Und auch nicht, um kommenden Kuratoren ein Rezept für kollektive Arbeit zu geben. Ich stelle mir einzig ein paar Fragen. Immer wenn ich versuchte, auf Fragen eine Antwort zu geben, hatte ich das Gefühl, am Wesentlichen vorbei zu zielen. Was wollten Sie sagen? Was haben Sie, alter Philosoph, von den „Immatériaux“ gelernt? Warum haben Sie eine Ausstellung gemacht (und nicht vielmehr ein Buch)? (Als ob ich mit einem Aktenkoffer voller Begriffe gekommen wäre, mit der Bitte an die Jungen, sie auf diesen anderen Träger, den Raum der großen Galerie, zu übertragen …)
Befragung, Gespräch, Diskussion, Pressekonferenz, all das ist einem strengen Erinnern nicht sehr günstig. Heute, da es diese Ausstellung nicht mehr gibt, versuche ich, der ich nicht berufsmäßig in diesem Bereich bin und das Glück habe, nicht gezwungen zu sein, aus dieser „Erfahrung“ der Immatériaux „Kapital zu schlagen“, und der ich mich freue, nicht mehr an sie denken (nicht mehr an ihr leiden) zu müssen, mich an das Wichtige zu erinnern, an das, was verborgen bleibt. Ich glaube, dass es sich um eine einzigartige Weise der Arbeit handelt, zusammen mit Männern und Frauen, die sehr viel jünger sind als ich.
Was einen Schriftsteller an das Buch bindet, das er geschrieben hat, ist der Schmerz, den es ihm bereitet hat. Auch den Lehrer in einer Klasse, die er unterrichtet. Nicht der institutionelle Erfolg, nicht die Vollkommenheit an sich; manchmal ist die Klasse nur mittelmäßig, das Buch banal. Und der Schmerz war der des Verzichts, der auferlegten Demut, der Abhängigkeit und der Revolte dagegen, sowie des Hinausgetriebenwerdens jenseits dessen, was man für sicher hielt.
Wenn ich unvorsichtig wäre, um nicht zu sagen ein Narr, würde ich noch hinzufügen: der Beweis, dass sich in das dünne und enge Gewebe der Kulturindustrie die allergeheimste Arbeit weben kann. Was wir der „Kultur“ schulden, ist nicht, was sie erwartet, sondern genau diese Arbeit, dieses Durcharbeiten. Denn es richtet sich auf „die Kultur“ selbst (auf unsere „Gegenstände“, die Wissenschaft, den Körper, das Material, die Ausstellung …). Auf alle, Eigentümer, Verwahrer, Nutzer der Kultur. Was immer sie davon haben.
Verzeihen Sie, dass ich das, was ich sagen wollte, in ernster und erbaulicher Weise gesagt habe. Für das Lustige und Guterzogene fehlt mir gerade das Talent. Vielen Dank für Ihre Arbeit.
Jean-François Lyotard (1985)
JFL richtet sich in einem persönlichen Résumé an das Team der Ausstellung „Les Immateriaux“. „D’un travail“ wurde in den „Étude“ veröffentlicht.
monoskop.org/Les_Immat%C3%A9riaux
Fabian Bertelshofer
Nele Jäger
Nicole Knap
Miruna Gavaz
Monique Haber
Julia Werner
Alexander Lozza
Evelyn Kliesch
Aniela Helen Guse
Leonie Elpelt
Andrea Hauer
Julia Himmelhuber
Max Hanisch
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